Feuilleton
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.02.2002, Nr. 46, S. 42

Hörbücher
Vorbereitung zum Gehenktwerden
Kafkas "Brief an den Vater" als Hörbuch des Monats


Ein Abendspaziergang in Prag an der Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert: Mutter, Vater und der gut sechzehn Jahre alte Sohn Franz Kafka wandeln durch die Stadt und haben den Josefsplatz erreicht. Der Sohn wirft den Eltern vor, daß er "unbelehrt gelassen worden" sei, jetzt aber zum Glück schon "alles" wisse und deshalb auch "alles" in Ordnung sei. Die Eltern scheren sich nicht weiter um die Vorhaltungen des Sohnes. Falls er einen Rat brauche, entgegnet Vater Kafka vielmehr gelassen, wie er "ohne Gefahr diese Dinge werde betreiben können", so möge er sich ruhig an ihn wenden. Damit bricht das Gespräch über das unaussprechliche Thema ab.

Zwei Jahrzehnte später nennt Sohn Kafka dieses Angebot "die erste direkte, Leben-umfassende Lehre . . ., die ich von Dir bekam." Und er erläutert im "Brief an den Vater", den er 1919 schreibt, aber niemals an den Adressaten abschicken wird, weshalb durch diese Lehre weiland seine "ganze Zukunftswelt" zusammenbrach: "Das, wozu Du mir rietest, war doch Deiner Meinung und gar erst meiner damaligen Meinung nach das schmutzigste, was es gab." Damit nicht genug. Weil der Vater eben auch Ehemann sei, sei er zugleich "ein reiner Mann, erhaben über diese Dinge." Und also folgert der Sohn, der väterliche Rat könne nur "tiefster Verachtung" ihm gegenüber entsprungen sein. Das ein für allemal prägende Resümee des Abendspaziergangs lautet deshalb: "Bestand die Welt also nur aus mir und Dir, . . . dann endete also mit Dir die Reinheit der Welt und mit mir begann kraft Deines Rates der Schmutz."

Eine, um das wenigste zu sagen, durchaus merkwürdige Deutung. Sie konstruiert aus dem beiläufigen, gewiß gut gemeinten und durchaus gesellschaftskonformen Hinweis, der Sohn möge "diese Dinge" bei den Dirnen lernen und sich dabei die Hörner abstoßen, nicht weniger als eine absichtsvoll herbeigeführte Seelen- und Charaktervernichtung des Nachgeborenen, einen väterlich finalen Schuldspruch für alle Zeit. Darum aber hat es sich nicht gehandelt. Was hier stattfindet, ist in Wahrheit eine Selbstvernichtung in Sachen Sexualität, die die Schuld daran an einen anderen, eben an den Vater, delegiert - und zwar durch Unterstellung.

Das ist die nachhaltigste Erfahrung mit Franz Kafkas "Brief an den Vater": daß da einer das ganze Alphabet der eigenen Beschädigungen aufsagt, daß er oft völlig nachvollziehbar die kleinen Nachlässigkeiten und die großen Erziehungssünden auflistet, denen er unterworfen war - zugleich aber die Verantwortung für sein nunmehr längst erwachsenes Leben nicht übernehmen kann oder will. Vater Kafka, luzide und sehr konkret geschildert mit seinem Alltagslaunen, seiner herrischen Natur und seinem tendenziell tyrannischen Wesen, mutiert dabei zu einem Monster der Macht und dient dem Sohn auf diese Weise zur Rechtfertigung der selbstdiagnostizierten Lebensschwäche. Die ganze Kraft von Kafkas Schreiben: Sie entspringt nicht zuletzt der erfolgreichen Abwehr jener tüchtigen und tätigen Alltagsbewältigung, für die der Vater als Exempel dienen muß.

Der Wiener Schauspieler Stefan Fleming spielt nicht nur Theater, er tritt auch in Musicals und Operetten auf. Das stimmliche Repertoire, das er sich dabei erwarb, hat deshalb viele Facetten: Es reicht von lakonischem Aufsagen bis zu pathetischer Deklamation, es verfügt über den Schmelz des Sentimentalen ebenso wie über die zynisch hingehauene Sentenz. Stefan Fleming hat Kafkas "Brief an den Vater" nun auf zwei CDs gelesen, gesprochen, geschrieen, gesungen, gelacht und geweint. Seine Rezitation ist von den Juroren der Bestenliste von Hessischem Rundfunk und Börsenblatt zum Hörbuch des Monats Februar gewählt worden. Das ist sehr angemessen. Denn zum einen hält sich dieser Sprecher an den vollständigen Text der Kritischen Ausgabe des S. Fischer Verlags und der Faksimile-Edition von Joachim Unseld aus dem Jahr 1986 bei Hoffmann und Campe - und zum anderen gelingt ihm das veritable Kunststück, mit all seinen stimmlichen Möglichkeiten nicht im Übermaß zu chargieren, sondern sie wohldosiert nach Maßgabe der jeweiligen Textpassage einzusetzen.

Wenn also Kafka zu Beginn des Briefs mit bedachter Umständlichkeit zu erklären sich müht, daß an der Katastrophe zwischen Vater und Sohn im Grunde niemand schuld sei, dann wählt Stefan Fleming dafür einen fast - aber eben nur fast - hündischen Unterwerfungston, dem an nichts anderem gelegen ist, als die Schuldvorwürfe des Vaters zurückzuweisen, ohne ihn selbst zu beschuldigen: "ohne jede Schuld Deinerseits natürlich" lautet die vielfach variierte Formel dafür. Franz Kafka hat mehrfach auf die "advokatischen Ausdrücke" des Briefs verwiesen und auch wegen des befürchteten Einwands der Spitzfindigkeit auf ein Abschicken verzichtet. Seine Epistel arbeitet mit den Mustern eines umgedrehten Gerichtsverfahrens: Immer spricht sie den Vater zunächst frei - und klagt ihn dann desto mächtiger an. Und je mächtiger die Anklage wird, desto heftiger - aber eben nicht zu heftig steigernd - zählt Stefan Fleming deren einzelne Punkte auf. Er, sagt der Sohn, sei eben mehr vom schwächlichen Muttergeschlecht der Löwys geprägt, um dann in emphatischer Reihung des Vaters Eigenschaften zu benennen: "Du dagegen ein wirklicher Kafka an Stärke, Gesundheit, Appetit, Stimmkraft, Redebegabung, Geistesgegenwart, Menschenkenntnis, einer gewissen Großzügigkeit." Je höher aber die Töne, in denen der Autor Kafka die Autorität des Vaters schreibend preist, desto schriller und verzweifelter werden die Töne, die der Sprechsteller Fleming dafür rezitierend findet. Und genau solche Kontrafaktur wird dem lauten Lesen des geschriebenen Briefs gerecht.

Über allem jedoch: das Alphabet der Beschädigungen. Der Vater setzt den kleinen Sohn des Nachts vor die Tür, weil der beständig um Wasser winselt. Der Vater äußert sich verächtlich über einen Freund des Sohns, den er gar nicht kennt. Der Vater hält sich beim Essen selbst nicht an die Gebote, die er dem Sohn auferlegt hat. Der Vater setzt "Schimpfen, Drohen, Ironie, böses Lachen und - merkwürdiger Weise - Selbstbeklagung" ein, um den Sohn ins Unrecht zu setzen. Der Vater wütet in seinem Geschäft für Galanteriewaren und treibt den Sohn damit "zur Partei des Personals". Der Vater bietet dem Sohn ein "Nichts von Judentum" und verweigert ihm deshalb Rettung im Glauben und in der Gemeinde.

"Es ist auch wahr, daß Du mich kaum einmal wirklich geschlagen hast", gibt der Sohn zu, um dann das Fazit der Fatalität zu ziehen: "Aber das Schreien, das Rotwerden Deines Gesichts, das eilige Losmachen der Hosenträger, ihr Bereitliegen auf der Stuhllehne war für mich fast ärger. Es ist, wie wenn einer gehenkt werden soll." Als "Vorbereitungen zum Gehenktwerden" hat dieser Sohn die Auftritte des Vaters erlebt. Und sich gewünscht, wirklich gehängt zu werden, denn dann wäre "alles vorüber". Die Begnadigungen in letzter Sekunde jedoch waren die eigentliche Strafe: "Sein Leben lang" habe er daran zu leiden.

Der "Brief an den Vater" ist eine maßlose Übertreibung. Aber er ist die Wahrheit des Franz Kafka - und deshalb eine wesentliche Grundbedingung seines Werks, eines Werks, das die Welt erhellte, indem es sie verdunkelt hat.

JOCHEN HIEBER

Franz Kafka: "Brief an den Vater". Gelesen von Stefan Fleming. Preiser Records, Wien 2001. 2 CDs, 134 Min., 26,90 <Euro>.

Bildunterschrift: Kafkas Brief an den Vater ist eines der berühmtesten Schreiben der Weltliteratur. Abgeschickt wurde der Brief allerdings nie. Foto AKG

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